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Leseprobe: Blind (Sternenbrand 1) – Annette Juretzki schreibt

Leseprobe: Blind (Sternenbrand 1)

Blind Cover Sternenbrand Scifi Annette JuretzkiNeugierig, was ich eigentlich so für Romane schreibe? Dann kannst du hier ins erste Kapitel von Blind hineinlesen, dem ersten Teil meiner Science-Fiction-Reihe Sternenbrand. Und wenn du das lieber offline tust, gibt es hier das ganze Kapitel als pdf. Viel Vergnügen! 🙂


_01

Xenen blickte zum Nachthimmel auf und war geblendet von den kleinen Sonnen, die kreisrund auf ihn herabstrahlten. Sie hatten sich zu viert zu einem Rechteck zusammengeschlossen und tauchten den Innenhof in einen Kegel aus weißem Licht, während sie langsam anwuchsen.

Er hob die Hand schützend zur Stirn, spähte die Handkante entlang ins unnatürliche Hell, bis die Augen schmerzten. Ein Dröhnen tönte aus der Ferne des Himmels, wie es der Wind beim größten Sturm nicht jaulen könnte, und die Nacht spuckte einen schwarzen Schatten aus. Xenen erschrak und lächelte zugleich: Die Götter kehrten zurück.

»Bei allem Heiligen …« Turaks Stimme erklang hinter ihm. Xenen hatte den alten Priester nicht kommen hören. Er musste die Präsenz der Götter gespürt haben, sodass es ihn nachts auf den Hof trieb. Oder kehrte auch er aus der Dorfhütte eines Geliebten heim?

»Ja, ein wirklich heiliger Moment.« Xenen wandte sich nicht um. »Es ist wahr! Die Götter leben tatsächlich zwischen den Sternen!« Er lachte aufgeregt.

Der Schatten nahm Kontur an, wurde zu einem klobigen Kasten, dessen vier Sonnen sich als bloße Lichter entpuppten. Nahe dieser Scheinwerfer loderte blaues Feuer aus den Seiten herab. Das Dröhnen wurde schriller, als der metallene Götterwagen hinabschwebte, und Xenen hielt sich die Ohren zu. Die Luft war schwül und schmeckte nach Staub. Etwas Ängstliches regte sich in ihm und riet zur Flucht, doch er konnte den Blick nicht abwenden.

Die rote Bemalung war zerkratzt und ausgeblichen. Der Götterwagen war … vergänglich.

Mit einem Ruck wurde Xenen herumgerissen, fort vom Getöse und in Turaks Arme. Die ergrauten Augen des Priesters lagen in tiefen Furchen verborgen und wirkten winzig. »Das sind keine Götter!«, schrie er gegen den Lärm an. »Schnell, ins Kloster!« Ohne eine Antwort abzuwarten, zerrte er Xenen um das Gewächshaus herum mit sich und der junge Mann ließ es verwirrt geschehen. Wer außer den Göttern sollte den Himmel bereisen?

Der Eingang des tiefblauen Klosters lag nicht weit vom Gewächshaus entfernt. Hinter dem langgezogenen Vorbau wölbte sich das gläserne Kuppeldach der Haupthalle, als wäre sie aufgeblasen. Im offenen Eingang stand Nirka in ihrem Nachthemd und sah ausnahmsweise nicht wütend aus. Ihr Zopf schmiegte sich am Hals entlang und die ersten grauen Härchen zerteilten das Braun.

»Wo kommt der Krach her?« Ihr Blick schweifte zwischen beiden Männern hin und her. Hinter ihrem Rücken drängten sich einige der anderen Bewohner im flackernden Licht zusammen und lugten vorsichtig heraus. Auch wenn sie im Kloster alle Brüder und Schwestern im Geiste waren: Nirka war tatsächlich Xenens große Schwester. Und selten war sie glücklich darüber.

»Die …« Xenen stockte. Die Nacht fühlte sich wieder so profan an, dass er nicht an Götter glauben wollte.

Noch während er überlegte, ergriff Turak das Wort: »Ein Wagen ist vom Himmel herabgestiegen. Schnell hinein mit euch! Wer weiß, was da auf uns zukommt.« Mit wilden Gesten scheuchte er Nirka in den Gang. Sie murmelte Wortfetzen, von denen Xenen nur »Himmel« verstand, und ließ sich widerstandslos zurücktreiben.

Xenen wollte folgen, da wurde es still. Der Wagen musste gelandet sein. Turak hatte recht: Sie wussten nicht, wer sich darinnen befand.

Noch nicht.

Vorsichtig wagte sich Xenen einige Schritte rückwärts und bog den Rücken durch, bis er fast das Gleichgewicht verlor. Durch das milchige Glas des Gewächshauses konnte er nur einen rötlichen Block erkennen, aus dem sich die ersten ovalen Schatten lösten. Sein Herz schlug aufgeregt gegen die Brust.

»Xenen!« Trotz des scharfen Tonfalls klang Nirkas Ausruf mehr wie eine Bitte an das Unvermeidbare. »Xenen, nein! Du kannst nicht …«

»Nur ein kurzer Blick.« Xenen sprintete los, um die Ecke des Gewächshauses, und verharrte augenblicklich. Enttäuscht kühlte sein Puls ab: Aus der Metallkiste stiegen Menschen. Sicher, ihre Kleidung war seltsam geschnitten; der schwarze Stoff lag dick um alle Glieder und vier rote Kreise waren auf den Ärmeln aufgestickt. Sie erinnerten an die Zirta-Blüte, so wie sie sich in der Mitte überlappten. Um den Kopf hatten sich die Fremden braunes Glas gebunden, das wie ein Schutzschild um die Augen lag. Trotzdem waren es nur Menschen; zwei Männer, zwei Frauen, keine Götter, nicht einmal Avatare! Xenen fluchte innerlich. Er hatte sich einfach etwas Besonderes gewünscht.

Für die Fremden hingegen schien er sehr aufregend zu sein. Sofort hoben drei von ihnen ihre seltsam geformten Waffen, dunkle Kästchen mit abstehenden Rohren, und bellten ihm eine Silbe entgegen, die nur »Halt!« bedeuten konnte. Aus dem Inneren der Metallkiste drang ein langes Knurren, doch bestand es aus verschiedenen Lauten, wie es sonst nur Wörter taten. Dennoch fehlte jede Art von Melodie. Xenen blieb stehen. Er wollte die Fremden nicht zu sehr durch seine Neugier reizen, also neigte er sich nur ein Stück zur Seite, um einen Blick ins Innere des Wagens zu riskieren. Doch er konnte nicht hineinspähen. Die Rufe wurden drohender, einer schrie lauter als der andere. Die schwarzhaarige Frau schüttelte ihre Waffe, als wollte sie damit eine unsichtbare Kugel anstoßen. Noch immer wummerte Xenens Herzschlag, doch er wollte sich nicht ängstlich fühlen. Etwas Unbekanntes war in diesem Wagen verborgen und konnte sich dort nicht ewig verstecken. Wenn er nur ein bisschen weiter nach rechts gehen würde …

Plötzlich stand dieser Mann vor ihm. Er sprach mit ruhiger Stimme in einer unbekannten Sprache, die Xenen doch vertraut vorkam. Seine wenigen Wörter wurden von einer neugierigen Melodie getragen. Hatte der Fremde nach einem Namen gefragt? Xenen stutzte. Ein großer Mann war das, zu dem er da aufblickte, mit breiten Schultern und kräftigem Kinn. Die blauen Augen erschienen dunkel hinter dem braunen Glas. Seine Waffe hing locker an ihrem Gurt und auf sein Handzeichen hin senkten auch die anderen ihre Gewehre. Auffordernd lächelte er Xenen an. Eine Narbe war wie ein Keil in seine Unterlippe getrieben. Auch Xenen lächelte nun. Die braunen Haare waren gerade lang genug, dass man die Finger darin vergraben könnte. Auch wenn dieser Mann nichts Besonderes war, interessant war er allemal.

»Xenen«, antwortete er intuitiv. Er überlegte, was er sonst noch sagen konnte, als wieder diese knurrende Stimme aus dem Wagen drang und ihr ein Poltern folgte. Xenen versuchte, neben den Fremden zu treten, doch der legte seine Hand an Xenens Schulter, hielt ihn bestimmend zurück.

Es war auch nicht nötig, einen besseren Blickwinkel zu erhaschen. Denn das Ungeheuer, das sich aus dem Metallkasten hievte, hätte niemand übersehen können. Es war nicht größer als die Frauen, aber durch die kräftigen Schultern und Arme schien es doppelt so breit zu sein. Dunkle Haut umspannte das Gesicht, zerklüftet wie Fels, und die zwei Augen wirkten finster und starr durch das Glas, als wären sie ganz aus Nacht geschaffen. Statt einer Nase hatte es nur drei Schlitze, der Mund war breit mit dünnen Lippen. Von der Stirn an wuchsen viele bleiche Wirbel bis zum Hinterkopf, die dünn wie kleine Äste miteinander verflochten waren. Und doch trug es Kleidung, als wäre es ein Mensch. Xenen stockte der Atem, seine Zunge klebte im trockenen Mund. Die Beine zuckten zur Flucht und diesmal gab er ihnen recht. Das Ungeheuer zeigte auf Xenen, sprach kehlige Worte, und der interessante Mann drehte sich erbost um, ließ Xenen kurz aus den Augen. Hatte das Ungeheuer befohlen, ihn zu ergreifen? Xenen riss sich los und rannte.

Sie brüllten ihm nach wie Raubtiere ihrer Beute, doch er blieb nicht stehen. Der Puls rauschte in seinen Ohren; er rechnete jeden Moment mit den ersten Schüssen und war bereit, sich auf den Boden zu werfen. Aber nichts surrte hinter ihm. Furcht jagte ihn zum Kloster und versagte ihm jede Kontrolle über seinen Sprint. Xenen knallte gegen die geschlossene Metalltür; er keuchte schneller, als sein Herz schlug. Wie von Sinnen fuhr er mit der rechten Hand die kahle Wand ab, versuchte verzweifelt, diese eine Stelle zu finden, die das Tor öffnete. Es hieß, die Augen der Erleuchteten würden auf ihrer Suche nie missgeleitet. Für den Rest von ihnen hätte man doch wenigstens einen Kreis drum malen können! Hinter ihm wurden Schritte und Stimmen lauter, wieder schrien sie und das Ungeheuer knurrte. Xenen trat gegen die Tür, hämmerte panisch auf der Wand herum. »Nirka!« Warum hatte er nicht einmal auf sie hören können?

Mit leisem Säuseln fuhr die Tür zur Seite und zwei Hände griffen nach Xenen. Schwungvoll wurde er hineingerissen und stolperte gegen seine Schwester. Er versuchte noch, sich abzufangen, und warf sich mit ganzem Gewicht gegen die Wand, doch Nirka ließ ihn nicht los und sie fielen gemeinsam zu Boden. Dumpfer Schmerz durchzog die Schulter und die Fingerknöchel pochten. Aber er war in Sicherheit.

Erleichtert atmete Xenen aus, als ihn ein kühler Lufthauch streifte. Der Eingang stand noch immer offen. Xenen wollte aufspringen und zur Türkontrolle hechten – falls er sie rechtzeitig finden könnte –, da erblickte er die blonde Frau und blieb erstarrt liegen. Mit der Waffe im Anschlag hatte sie ihn direkt im Visier und doch hatte sie diesen kurzen Moment gewartet, damit er sie ansah. Sie war so ruhig, als wäre die Welt um sie erfroren. War der Tod wirklich so profan? Xenen schloss die Augen und seine Gedanken wurden Nichts.

Das Leben kam säuselnd daher. Als er wieder aufzuschauen wagte, hatte sich die schwere Tür wie von Götterhand in Bewegung gesetzt. Panisch sah Xenen zur Schützin, die nun statt eines Gewehrs nur ihren Arm hielt. Neben ihr stand der Mann mit der Narbe, ihr Gewehr in den Händen und schrie auf sie ein. Doch es war zu früh, um den Göttern zu danken, denn auch das Ungeheuer war dort und nahm Anlauf, als es die schließende Tür erblickte. Schnell griff Xenen nach Nirka, rollte sich mit ihr zur anderen Wand und fort aus dem Sichtfeld. Für einen Herzschlag herrschte Stille, dann krachte es laut durch den Gang, als das Ungeheuer hart aufschlug. Rasch griff es mit den Händen in den Spalt, stemmte sich mit aller Kraft in die Öffnung – und tatsächlich: Die Tür stoppte. Natürlich tat sie das, sonst wäre hier wohl kaum ein Kind mit allen Fingern an den Händen erwachsen geworden.

»In die Haupthalle!« Xenen zog Nirka hoch und gemeinsam hetzten sie den engen Gang entlang, vorbei an den Kühlboxen für die Ernte, die sich bis zur Decke stapelten. Weißes Licht flackerte, verbarg den Weg mit Schatten und jagte sie wieder fort. Die Lampen kämpften schon seit Jahren gegen ihr Ende an. Hinter Xenens Rücken war lautes Scheppern zu hören und das Ungeheuer fluchte wütend.

Die Lichter blinzelten. Am Ende des Ganges stand Turak. Ein roter Schimmer drang aus der Haupthalle und malte seine helle Robe fiebrig. Mit hektischen Handzeichen winkte er die zwei zu sich. Als ob sie schneller laufen könnten! Xenens Lunge brannte und seine Seiten schmerzten wie von kleinen Nadeln zerstochen. Er hatte nur Turak im Blick, mobilisierte die letzten Kräften, als die Finsternis zurückkehrte. Zwei Herzschläge lang sah er nichts als die rote Aureole, die ihn wie ein junger Morgen lockte. Dann schlug etwas gegen sein Schienbein.

Xenen stolperte über einen Kistenberg. Gerade noch rechtzeitig sprang Nirka zur Seite, sonst hätte er sie mitgerissen. Als Xenen aufschlug, spürte er nur Kälte, so entrückt erschien ihm sein Körper. Sofort eilte ihm seine Schwester zur Hilfe, griff nach seiner Hand und wollte ihn auf die Beine ziehen. Doch als er das Knie aufstützte, durchströmte Schmerz sein Bein. Schreiend sackte Xenen wie gelähmt zu Boden. Hinter ihm ertönten Stimmen, von Menschen, dem Ungeheuer – und etwas ganz Fremden. Xenen wollte sich umwenden, aber Nirka zerrte an ihm und ließ den Schmerz noch stärker strahlen.

»Lass mich … lauf!« Xenen blickte flehend zu ihr auf. Sie hatte genug für ihn riskiert.

»Vollidiot!« Nirka riss an Xenens Armen und ließ auch nicht locker, als sein Bein ihm keinen Halt schenken wollte. Xenen schrie, bis ihm der Atem verloren ging. Sein Körper war nur der gleißende Strom aus Schmerz, den sein Knie durch die Muskeln pumpte. Als der Boden unter den Füßen weich wurde, die Stimmen nur noch einem fernen Rauschen glichen und schwarze Flecken das Rot des neuen Tages verbargen, war Xenen froh, endlich loszulassen.

***

Blind Sternenbrand Xenen Zitat Juretzki

***

Bevor er ganz aus der Wirklichkeit gleiten konnte, wurde er hart in die Welt zurückgerissen und kam mit schmerzender Schulter auf dem Boden der Haupthalle auf.

»Mach das nie wieder!« Nirkas Stimme zerstörte auch die letzte Hoffnung, er könnte sich in einen fernen Traum flüchten. Xenen fuhr sich über die abgespannten Augen, wischte die schwarzen Fetzen endgültig fort. Nirka hockte neben ihm und für einen Moment war ihr Gesicht in Zornesröte gehüllt. Doch dann erkannte er die Furcht, die das grelle Licht verschleierte. »Als ob ich dich je zurücklassen könnte …«, raunte sie.

»Oder ich.«

Xenens Kopf zuckte herum und tatsächlich: Auf der anderen Seite, direkt neben ihm, hockte ausgerechnet Khire. Seine roten Locken erinnerten an eine zerzauste Mähne, und für einen Moment schien es, sein Kopf stände in Flammen. Xenen glaubte sogar, die Hitze zu spüren, doch es war nur seine eigene Haut, die noch immer von der Hatz glühte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er Khires Hand hielt. Eine seltsame Beklommenheit breitete sich aus. Am liebsten hätte Xenen die Hand wieder weggezogen, aber jetzt war nicht die Zeit für Streit. Sie wurden angegriffen.

»Du solltest Khire danken, ohne ihn hätte ich dich nicht wegbekommen.« Nirkas Stimme klang sanft, schließlich wusste sie, was sie da von ihm erwartete.

Xenen blickte in die blauen Augen des lächelnden Mannes; strahlend wie der Sommerhimmel. Am liebsten wäre er aufgesprungen. Alles in ihm sträubte sich, auch nur freundlich zu nicken. Vorbei war vorbei.

»Nicht nötig. Du weißt, wie viel du mir noch immer bedeutest.«

Und ich weiß, was ich dir nicht bedeute!

Xenen stieß die vertraute Hand von sich und versuchte sich aufzurichten, doch der glühende Schmerz im rechten Bein hielt ihn am Boden. »Nirka, hilf mir hoch.« Er wollte hier fort, sich ablenken. Wartete da draußen nicht ein Ungeheuer auf ihn? Alles war ihm recht, solange er nur nicht wieder Zeit mit Khire vergeuden musste.

»Ganz sicher nicht! Dein Knie ist verrenkt.«

»Dann gib mir eine Krücke. Oder einen Stock oder sonst was!«

»Warte, ich hol dir einen der Rollstühle.« Khire stand auf und ging in Richtung der Schlafräume.

»Nicht nötig!«, brüllte ihm Xenen hinterher und zuckte gleich darauf verschämt zusammen. Seine Worte zerrissen die beklommene Stille, die furchtsam die Haupthalle regierte. Dreißig Augen blickten ihn an, als hätte er wieder versucht, das Nachtgewand der Erleuchteten an die höchste Lampe über dem Altar zu hängen.

»Wenigstens gibt er sich Mühe«, flüsterte Nirka.

»Ich wäre froh gewesen, wenn er sich letztes Jahr weniger Mühe gegeben hätte.«

»Xenen, du bist bei Bewusstsein? Großartig! Mach dich nützlich und komm her. Sag, was du gesehen hast.« Varbu kniete vor dem metallischen Altar, über dem der Wille der Götter zuckte. Das ausladende Pult kannte viele Knöpfe in den verschiedenen Formen, die in geschwungenen Linien angeordnet waren. Gemeinsam ergaben sie die heiligen Ornamente und zwischen ihnen waren kunstvolle Symbole eingraviert, wunderschön und erhaben. Nur leider hatten die meisten Knöpfe keinen Nutzen. Der Rote, der sich wie eine Spirale in sich selbst verdrehte, sorgte sogar für dieses grässliche Pfeifen, wenn man ihn nur berührte. Der Grüne aber, der an ein zu enges Dreieck erinnerte, brachte den Willen der Götter in die Welt. Auf Knopfdruck drang feines Licht aus den kleinen Löchern zwischen den Ornamenten, das sich zu einem zitternden Farbenspiel verband, welches in Menschengröße über dem geschwungenen Tisch schwebte. Die meiste Zeit war aus den bunten Lichtfetzen nichts als Chaos zu deuten, doch manchmal, wenn man sich ganz in das Bildnis vertiefte, schien es für einen Moment, als würden die Farben ein Gesicht formen. Es hieß, die Erwählten könnten darin die Götter erkennen und mit einer Stimme für sie sprechen. Aber Varbu sprach immer nur für sich selbst.

Auch wenn Nirka ihn stützte, gelang Xenen nicht ein Schritt, bei dem er nicht zu spüren glaubte, wie ihm jemand das Bein am Knie abriss. Als er den Altar endlich erreicht hatte, war die Erleuchtete bereits aufgestanden und hatte sich mit Turak vor einem geschwungenen Rechteck aus schwarzem Glas versammelt, auf dem heilige Symbole blinkten. Die Waffe mit dem zur Spirale gewundenen Rohr hing ihr über der Schulter. Spontan verzog sich jeder Schmerz und Xenen sprang auf dem gesunden Bein zu den beiden herüber. »Was ist das?«, fragte er aufgeregt und zeigte auf die Scheibe, die heute zum ersten Mal aus der Wand erschienen war. Seine Finger knackten ungesund.

»Das Herz des Klosters«, antwortete Varbu genervt und wandte sich Xenen zu. Die Augen der Erleuchteten waren gänzlich blau und weit über die Augenhöhlen hinausgewachsen, seit sich ihr die Götter offenbart hatten. Es hieß, die Augen der Erleuchteten wären ein Sinnbild göttlicher Vollkommenheit; reines Blau sei die erhabenste Farbe. Wenn Xenen jedoch genau hinsah, konnte er in Varbus Augen winzige Kristalle glitzern sehen. Schön wie die Sterne am Nachthimmel zerstörten sie die Perfektion.

»Also, was ist da draußen los?« Als Zeichen ihrer Ungeduld stemmte Varbu den rechten Arm in ihre Seite.

»Ein torgroßer Metallkasten ist vom Himmel herabgefahren. Irgendwie dem alten Heuwagen im Dorf ähnlich, nur ohne die großen Holzräder, von denen alle paar Wochen eines abbricht. Auch hat er Lichter und kann blaues Feuer …« Xenen sprach immer leiser, während er zum schwarzen Glas herüberlugte. Die Symbole änderten sich, als Turak seine Finger darauflegte.

»Xenen, träum nicht. Details! Wer ist da draußen?«

»Vier Menschen und ein Ungeheuer. Und noch einer.«

»Details …« Varbus Tonfall nahm eine aggressive Schärfe an.

»Das Ungeheuer ist … stark. Grau wie Stein, mit verbogenen … Knochen oder sonst was am Kopf. Und der andere – ich weiß es nicht. Ich hab ihn nicht gesehen, nur gehört. Aber …« Xenen schloss die Augen, um sich zu konzentrieren. »Er sprach nicht wie die Menschen, sondern wie das Ungeheuer. Nur reiner. Keine heisere Unschärfe verformte die Laute. Er sprach – perfekt.« Xenen erkannte sofort, dass Varbu nicht verstand, was er meinte. »Und ihre Sprachen mischten sich nicht.«

»Zwei ungemischte Sprachen, bist du sicher? Wie können sie sich da verstehen?« Sie sah ihn tadelnd an. Xenen hatte sich noch nie in Varbus Nähe wohlgefühlt, doch jetzt kam er sich unglaublich nutzlos vor.

»Nicht gut, nicht gut …«, murmelte Turak und fuhr mit dem Finger über das Glas.

Aus dem Augenwinkel konnte Xenen beobachten, wie Nirka Khire den Rollstuhl abnahm und er dankte ihr innerlich dafür.

»Als ich ein kleiner Junge war, kamen schon einmal graue Ungeheuer vom Himmel.« Der alte Priester sprach, ohne dabei aufzublicken. »Sie hatten versucht, ins Kloster zu kommen, aber unser Erleuchteter berührte das Glas und dann sahen wir Bilder von ihnen. Das Licht wurde rot wie jetzt und draußen leuchtete eine blaue Aureole der Heiligkeit auf, die keine Unwürdigen hindurchließ.«

Xenen blickte auf zum gläsernen Kuppeldach, doch statt heiligem Licht sah er nur den finsteren Nachthimmel. »Da ist keine …«

»Noch bin ich nicht blind!« Wütend schlug Turak mit der flachen Hand auf die Wand, die im roten Licht lila zu glühen schien. Xenen hatte den alten Priester noch nie so aufgewühlt erlebt. »Damals haben sie es nicht ins Kloster geschafft. Aber in die Dörfer … Sie holten sich alle hübschen und kräftigen Männer und Frauen, klauten ein paar Artefakte und weg waren sie wieder.« Er schnaubte und schüttelte den Kopf. »Vielleicht wollen sie diesmal den Avatar holen?«

»Niemand will Tir’shar holen.« Varbu sprach verächtlich, doch Turak schien nicht von ihren Worten überzeugt. Lange vor Xenens Geburt hatten die Götter Tir’shar als ihren Avatar zu den Menschen gesandt, damit er ihnen in diesem rauen Land beistand. Er war alt wie die Zeit, doch verließ er nie das Sanktuarium und lehrte nur in den heiligen Sprachen. Xenen war es schon immer leichtgefallen, ihm zu lauschen, und er mochte die verschrobene Art des göttlichen Wesens. Auch Varbu war eine gelehrige Schülerin gewesen, aber nachdem sie von Tir’shar erwählt worden war, wollte sie das Sanktuarium nie mehr betreten und verlor auch kein gutes Wort über den Avatar. Xenen fragte sich oft, was ihr die reinen Augen zeigten. Manchmal wünschte er, er hätte die Erleuchtung nicht abgelehnt.

»Irgendwen wollen sie hier aber holen.« Zum ersten Mal sah Turak auf, blickte Xenen lange an. Enttäuschung hatte sich über das faltige Gesicht gelegt. »Fast hätten sie dich erwischt und deine Schwester gleich mit dir; hätte ich nicht herausgefunden, wie man auch hiermit die Türen zumacht. Und jetzt haben wir sie drinnen. Und alles, weil du nicht einmal auf das hören kannst, was man dir sagt.«

Xenen schluckte. Er wollte etwas erwidern, doch fand keine Worte für den traurigen Blick des Priesters. Hatten die Fremden ihn deshalb nicht erschossen – weil sie ihn fangen wollten? Zumindest das Ungeheuer hatte befohlen, ihn zu ergreifen. Als Nirka den Rollstuhl zu ihm schob, ließ er sich mit hängenden Schultern hineinplumpsen. Seine Brüder und Schwestern hatten sich auf den Plastikstühlen vor dem Altar versammelt und die jüngeren Kinder auf den Schoß gehoben. Alle starrten sie Xenen an; manche vorwurfsvoll, andere ängstlich. Auch wenn sie Varbu und Turak unmöglich hatten verstehen können, ahnten sie, dass Xenen sie in Gefahr gebracht hatte. Nur Khires Blick klagte ihn nicht an, doch hielt er Larki in den Armen und strich ihr sanft übers blonde Haar. Warum lebten die zwei nicht schon längst im Dorf und gründeten eine eigene Familie?

Xenen wandte den Blick ab und konzentrierte sich auf das kleine Stückchen schwarzen Glases, was nicht von Turaks Rücken verdeckt wurde. Momentan wollte er an gar nichts denken. Die Symbole änderten sich unentwegt, ohne ein Muster zu offenbaren. »Zeig mir Bilder …«, murmelte der Priester und fuhr mit dem Finger über das Glas. Zwei neue Symbolzeilen huschten durch die Dunkelheit.

Xenen lehnte sich vor, stützte sich mit den Händen auf. Die neuen Symbole kamen ihm bekannt vor. »Das sind die Zeichen vom Altar. Über dem Knopf mit dem zerschnittenen Dreieck, der die Farben in den Raum wirft.«

Varbu wandte sich skeptisch um, doch Turak zögerte nicht lang. Er berührte die Symbole und mit einem Surren gab die Wand über der dunklen Scheibe die Sicht auf weiteres Glas frei, das in verschiedene geometrische Formen unterteilt war, die doch alle ineinandergriffen. Jede Figur zeigte ein anderes Bild, meist rote Möbel und violette Wände.

»Endlich!«, rief Turak freudestrahlend, aber Xenen ignorierte ihn. Er stemmte sich vom Rollstuhl hoch, wankte kurz, als ihn die Schulter an den Sturz erinnerte, und sprang näher an die vielen kleinen Bilder heran. Auf dem ersten in der untersten Reihe erkannte er sein Bett. Das Kissen lag noch immer unter der Decke, als würde er darin schlafen.

»Was ist noch alles in den Wänden versteckt?«, murmelte er.

»Frag nicht«, gab ihm Varbu keine Antwort.

Lange blieben die Bilder in Rot und Lila nicht stehen, denn Turak berührte eines der oberen, das an ein gebogenes Trapez erinnerte, und die Figuren flackerten. Die kleinen Bilder formten sich zu einem Großen – und zeigte die Fremden. Die vier Menschen standen vor der Tür zur Haupthalle, nahe einer hohen Maschine aus dunklem Metall, die mit silbernen Symbolen verziert war. Helle Lichter waren auf ihr angebracht und machten die Gruppe unabhängig von den kaputten Lampen des Ganges. Der vernarbte Mann deutete auf den verschlossenen Eingang, die anderen nickten. Das Ungeheuer war bei ihnen – und sonst niemand. Aber wen hatte Xenen noch gehört?

Plötzlich bewegte sich die Maschine. Ein eingeknickter Seitenarm streckte sich vom Hauptkörper ab, formte sich zur Geraden und deutete mit seinem ausgefransten Ende ebenfalls auf die Tür. Auch das obere Oval drehte sich, war ohnehin nur auf dünnen Stangen montiert, und die blauen Lichter, die zwei langgezogenen Linien glichen, leuchteten in die Menschengruppe. Der Vernarbte bewegte die Lippen, nickte erneut und blickte dabei direkt ins kühle Leuchten, als befände er sich im Gespräch. Die dünnen Lichter schwenkten zum Eingang – und die Maschine setzte sich in Bewegung. Die zwei massiven Träger unter ihr knickten kurz ein, als sie einen Schritt vor in die Mitte des Ganges tat. Als würde sie auf Beinen laufen.

Xenen lachte. »Das ist ein Mensch aus Metall!«

Die Priester drehten sich irritiert zu ihm herum und erst jetzt fiel ihm auf, dass auch viele der anderen näher getreten waren, um die Bilder zu betrachten. Doch schien sich außer ihm nur noch die kleine Darna über den Maschinenmenschen zu freuen. Aber das bedeute nicht viel, auch Giwardkäfer brachten sie zum Lachen.

Ein Surren lenkte die Aufmerksamkeit von Xenen fort auf die Tür, die zu vibrieren begann.

»Sie kommen rein.« Varbus Stimme hatte jede Selbstsicherheit verloren. Und sie hatte allen Grund dazu.

Xenen sah auf dem Glas, wie ein grüner Laser den Arm des Maschinenmenschen verließ und ganz langsam einen Kreis auf der Tür zog. Wo er sie berührte, warf das Metall erste Blasen und eine Furche entstand.

Die Frage war nicht mehr, ob die Fremden ins Kloster gelangen könnten, sondern wie lange sie noch brauchen würden. Hinter sich hörte Xenen ängstliches Flüstern und die ersten Kinder schluchzten.

Nirka trat vor, die Hände waren an den erschlafften Armen zu Fäusten geballt. »Wir sollten ins Sanktuarium. Der Avatar wird uns durch die Katakomben hinausführen. Er muss.« Sie klang verzweifelter, als sie es beabsichtigt haben konnte.

»Nein, das wird er nicht tun. Er würde das Kloster niemals in die Hände dieser Fremden fallen lassen.« Mit verbittertem Tonfall wandte sich Varbu an die Gruppe. »Uns bleibt nur der Kampf. Wir haben zwei Gewehre; wenn wir uns verschanzen, erwischen wir vielleicht genug von ihnen, dass sie sich zurückziehen.«

»Und wenn wir Pech haben, machen wir sie erst recht wütend.« Khire sprach aus, was viele von ihnen dachten, und auch Xenen wollte sich auf keinen Kampf einlassen. Die Fremden hatten nicht auf ihn geschossen, der vernarbte Mann hatte sogar ein Gespräch versucht. Wenn sich das Ungeheuer nicht wütend auf ihn gestürzt hätte, wäre es vielleicht gelungen.

Xenen schloss die Augen, fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Im Hintergrund stritten die anderen über Kampf und Flucht, doch da musste es mehr geben. Irgendetwas stimmte nicht, ergab an den Fremden einfach keinen Sinn. Das Ungeheuer hatte nur geknurrt, kehlig ohne Melodie gesprochen, wie Worte nur im Zorn lärmten. Aber auch der Maschinenmensch verlieh den Lauten keinen Klang, als hätte eine ganze Sprache ihre Musik verloren. Xenen schüttelte den Kopf, entwirrte jedes Detail seiner Erinnerung. Hatte es wirklich den Befehl gegeben, ihn zu ergreifen?

Es war stets der vernarbte Mann gewesen, der den anderen befahl. Das Ungeheuer hatte nur wenige Silben benutzt, wie es bei Wörtern üblich war, die man oft gebrauchte. Dann hatte es auf Xenen gedeutet, doch zu den Menschen gesehen – denn es hatte gefragt, wer er war! Und auch der Vernarbte war doch überrascht und neugierig gewesen, als Xenen plötzlich vor ihm stand. Seine Gedanken überschlugen sich, Xenen atmete tief ein, um zur Ruhe zu kommen, und spürte sein Herz pochen. Die Fremden hatten nicht gewusst, dass hier Menschen lebten.

»Was immer sie wollen, wir sind es nicht.« Xenen erschrak selbst, wie fest seine Stimme klang. Sofort hörten die anderen mit ihrer Streiterei auf und blickten ihn an.

»Das kannst du nicht wissen.« Turaks Misstrauen war ungebrochen.

»Aber ich weiß, dass sie keinen Kampf wollen. Und wir keinen gewinnen können.« Xenen wartete auf Widerspruch, aber auch wenn nicht viele überzeugt schienen, unterbrach ihn keiner. »Sie werden uns nichts tun, sonst hätten sie mich draußen erschossen. Doch was immer sie wollen, es muss hier drin sein, also sollten wir uns vorbereiten.«

»Wir kämpfen also doch, wenn sie durchgebrochen sind?« Auch wenn Varbu stark wie immer klang, glaubte Xenen, dass ihre Stimme einen leisen Zweifel preisgab.

»Nein, denn sie werden nicht durchbrechen. Wir lassen sie rein – und verhandeln. Kein Artefakt ist ein Leben wert.« Erstaunt sahen die anderen zu Xenen auf, wollten dem Plan lauschen, der ihm doch gerade erst selbst in den Sinn gekommen war. Alles war ihnen lieber, als mit der Waffe in der Hand auf den Tod zu warten. Nur Turak erhob sich, um etwas zu sagen, doch setzte sich wieder schweigend. Seine Enttäuschung war greifbar. Für ihn standen die Götter über jedem Leben, aber hier stand er allein gegen den Rest.

»Du kannst mit ihnen sprechen?« Nirka war noch nie leicht zu überzeugen gewesen.

Xenen hatte die Sprachen der Götter binnen zwei Tagen gelernt, wie schwer konnte da eine Menschensprache sein? »Ja«, sagte er selbstbewusst und hoffte, dass er nicht log.


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Author: Annette Juretzki

Autorin von Fantasy, Scifi & Unfug. Lektorin, Korrektorin & sonstige Besserwisserin. An sich ein netter Mensch, wenn man sie nicht näher kennt.

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