Leseprobe: Regentänzer (Von Rache und Regen I)

Das hier ist das erste Kapitel des Romans Von Rache und Regen – Regentänzer als Leseprobe. Lieber offline lesen? Hier gibt’s alles noch einmal als PDF.

Inhaltshinweise zur Leseprobe: Regentänzer
Explizite Darstellung von Leichen, Gewalt gegen Menschen, Krieg, Rassismus & Fremdenfeindlichkeit, Sexismus, Tod
Das Buchcover zum Roman "Von Rache und Regen 1 – Regentänzer" von Annette Juretzki: Ein Mann beschwört einen Feuervogel aus seinen Händen und steht vor einer brennenden Stadt im Regen.

»Hör zu, mein Junge, du musst nur für sieben Jahre zur Legion und die schönsten Mädchen in deinem Dorf werden schon ganz nass zwischen den Schenkeln, wenn sie dich nur von Weitem sehen. Denn genau dafür sind diese Feuermale da: auf die linke Wange, wenn du dich verpflichtest, auf die rechte, wenn du wieder entlassen wirst – und jede sieht bei deiner Rückkehr sofort, dass du zu den mutigsten Männern dieses Landes gehörst. Ganz im Gegensatz zu denen, die nur mit einer Narbe zurückkommen – das sind feige Deserteure, frisch von der Front geflohen, die jeder aufrechte Kerl sofort erschlagen muss! Sag’s auch deiner Familie, der abgeschlagene Kopf eines Feiglings ist zumindest noch für ein paar Silbermünzen gut. Und jetzt trink noch einen, der Schnaps geht auf mich, denn große Entscheidungen sind nichts für eine trockene Kehle.«

Imperialer Armeewerber in einer Schenke nahe Brengus

»Wessen Gesicht narbenlos ist, der wurde mit Verstand geboren. Wer nur eine Feuernarbe trägt, der besitzt Verstand genug, um aus Fehlern zu lernen. Wen aber beide Feuermale schmücken, der ist nicht nur dämlich wie ein Sack Nassgerste im Waschzuber, sondern auch noch zu stolz, um es zuzugeben.«

Cartharischer Rebell in einer Schenke nahe Salainn

Kapitel 1

Riagh bemerkte das Wesen schon von Weitem, das da zappelnd am Baum hing, abseits des Weges und unfähig, der Schlinge um seinen Hals zu entkommen. Trotzdem wandte er seinen Blick ab, als er näher herantrat. Zwei schnelle Atemzüge Pause, dann zwang er sich, erneut hinzuschauen.

Die Gestalt war einst eine Frau gewesen. Das lange Haar war strohig und stumpf, das Kleid aufgerissen wie das Fleisch des Gesichts und der Beine. Die Haut war fahl und aufgeraut wie die Wolken, die weder Himmel noch Sonne offenbarten. Die Frau trug keine Stiefel; wahrscheinlich waren sie gestohlen worden, noch bevor man sie aufgehängt hatte. Beide Schultergelenke waren ausgekugelt, wodurch ihre Arme zwar beständig zuckten, doch war es ihr unmöglich, sie anzuheben.

Die ersten Insekten nisteten an ihren Augäpfeln. Sie war höchstens seit zwei Tagen tot.

Leichen hatten Riagh noch nie Abscheu bereitet, aber bisher hatte sich auch noch keine gegen ihr zu rasches Ende aufgebäumt. Er versuchte zu schlucken, aber sein Hals war rau und trocken. Die Gerüchte stimmten also, der Fluch hatte Carthal wahrhaftig erreicht und quälte die Toten in ein zweites Unleben. Riaghs Atemzüge wurden schwer. Er fühlte sich erstarrt, doch sah er seinen Schatten zittern.

Die Verfluchte zappelte stärker, gab kehlige Laute von sich, schwang auf Riagh zu und konnte an ihrer Situation dennoch nichts ändern. Seine Lunge brannte, drohte zu bersten, aber er widerstand dem Impuls, die angestaute Luft kräftig hinauszustoßen. Stattdessen zwang er sich zu kleinen, kontrollierten Atemzügen, wollte seinen stürmenden Herzschlag bändigen, um sich wieder rühren zu können. Noch immer klebten seine Blicke an dem faulenden Leib.

Die Furcht war Riaghs Feind, nicht die Tote. Diesmal.

Ein Bein vor das andere, mehr stampfend als gehend, näherte sich Riagh dem hängenden Körper. Die Luft wurde stickig, schwere Süße legte sich einem Vorhang gleich vor seine Atemwege und Galle kroch seinen Rachen hinauf. Noch einen quälenden Moment lang wartete er auf seine Disziplin und den steinernen Magen, die er sechs Jahren Front zu verdanken hatte. Doch beide verspäteten sich und dann blieb keine Zeit mehr.

Hastig wich Riagh zwei Schritte zurück, fiel auf die Knie und übergab sich, würgte in kleinen Portionen seinen gesamten Mageninhalt hinaus. In den kurzen Pausen zwischen Speien und Keuchen blickte er auf, suchte das Bild der zerfressenen Augäpfel, erlaubte sich keine Ruhe. Erst als er sich leer fühlte und jämmerlich, mit brennender Kehle und tränenden Augen, gestand er sich zu, sich zu erheben, und nahm einen Schluck aus seiner Feldflasche, um den schlimmsten Geschmack aus dem Mund zu spülen. Die Luft lag klamm um seine Glieder, aber weder Kälte noch Feuchte schreckten ihn.

Riagh schritt erneut auf die Verfluchte zu, ohne den Blick von den dunklen Fliegen zu wenden. Mit dem Gestank kehrte das weiche Gefühl in den Knien zurück und sein Magen schien krampfhaft nach einem kleinen Bissen zu suchen, der sich doch noch herauspressen ließ. Aber Riagh lauschte nur seinem gleichmäßigen Atem, konzentrierte sich auf jeden einzelnen Luftzug und wich nicht mehr zurück.

Die Tote zappelte nach wie vor, impulshaft, aber träge. Er nickte ihr zu: So würden also ab jetzt seine Gegner aussehen.

Riagh setzte sich auf den Boden, nahe ihrem Leib und doch fern genug, um seinen eigenen zu schützen. Er legte das Breitschwert auf seine Schenkel und sah hoch zu ihrem tänzelnden Körper. Sie versuchte ihn zu erreichen, ihn zu treten und gluckste wütend, wenn sie doch wieder nur von ihm fort schwang. Ihre Finger zuckten spielerisch wie die Pfoten junger Katzen.

Riagh nahm sich viel Zeit und beobachtete sie genau, kein Klappern des Kiefers oder Rucken der Knie entging ihm. Er versuchte sich jede Bewegung einzuprägen, jedes planlos scheinende Zappeln zu deuten, bis ihm nichts mehr an ihrem Schwingen noch wirr erschien. Sie wurde ein zerfallendes Pendel, das er zu lesen wusste.

Erst dann wagte er sich an seine schwerste Prüfung: Riagh griff in seinen Brotbeutel und holte einen Rest Hartkäse hervor. Er erlaubte sich einen winzigen Bissen und mahlte das kleine Stück sehr behutsam zwischen seinen Backenzähnen, der Geschmack von nussigem Erbrochenem war ihm zuwider. Aber er zwängte die aufsteigende Galle wieder hinab und schaffte es schließlich sogar, den Käse zu schlucken, um sich nun ein größeres Stück zuzutrauen. Das kehlige Glucksen der Toten erklang als Beifall.

»Weißt du, jetzt wo wir uns besser kennen, bist du gar nicht so übel. Immerhin willst du mich nicht belehren, ich würde in die falsche Richtung laufen.« Riagh holte einen Kanten Brot aus seinem Beutel. »Ganz im Gegenteil, du würdest mich wahrscheinlich zu meinem alten Dorf führen, wenn du nur könntest. Nur käme ich wohl kaum in einem Stück an, denn ich glaube nicht, dass du deine Finger von mir lassen würdest. Oder deine Zähne.«

Sie fauchte im passenden Moment, als hätte sie seine Worte tatsächlich verstanden. Riagh lachte auf und verstummte doch schnell wieder. Sein eigener Klang erschien ihm fremd, als wäre er ein einstiger Jugendfreund, an dessen Namen sich Riagh nach all den Jahren einfach nicht mehr erinnern konnte.

»Wirklich eine Schande, was man dir hier angetan hat.« Er belegte sein Brot mit kleinen Käsestücken. »Ich schätze, sie haben dich vorher noch geschändet, was? Wären sie noch hier, ich würde dich rächen, darauf kannst du dich verlassen!« Er legte seinen Kopf in den Nacken, um ihrem Fuß auszuweichen, bevor er einen Bissen seines Brotes nahm. Imperiales Mischbrot, fad und beliebig. Bald konnte er endlich wieder den säuerlichen Geschmack eines Nassgerstenfladens genießen. Das hatte Seele!

»Ich glaube, sie haben nicht gewusst, dass du verflucht warst. Was ich gehört habe, sieht man es den Menschen nicht an. Vermutlich haben sie dich aufgehängt, damit alle glauben, Soldaten vollstrecken die imperialen Gesetze gegen Landflucht. So merkt keiner, dass gewöhnliche Räuber Fliehende überfallen – und niemand sucht nach ihnen. Die müssen sich ganz schön in die Hose gemacht haben, als du plötzlich wieder zu zappeln anfingst.« Riagh lachte erneut, versuchte sich an diesen Klang zu gewöhnen und deutete ihr Gurgeln als Zustimmung. Nach einem weiteren Bissen wurde seine Stimme wieder ernst.

»Du hast dir den Fluch im Westen eingefangen, was? Nachdem dich so ein Biest erwischt hatte, hast du dem Sturmfürsten gedankt, dass dich der Fluch verschonte, dass du kein Monster geworden bist. Und dann hast du schnell deine Sachen gepackt und bist geflohen. ›Nie wieder‹, wirst du dir geschworen haben, ›nie wieder will ich so ein Ungeheuer sehen. Ich lauf nach Garlitha, auch wenn’s da nur so von Barbaren wimmelt!‹« Ein weiterer Bissen und zähes Schlucken. »Du hattest wahrscheinlich keine Ahnung, dass der Fluch erst beim Tod ausbricht. Du dachtest einfach, du hattest Glück und kannst davonlaufen … und hast den Fluch damit tiefer ins Land getragen.« Riagh lehnte sich erneut zurück, beinahe zu spät, denn er spürte ihre kalten Zehen rau an seiner Stirn entlangstreifen. Die Tote fauchte auf und die spärlichen Reste ihrer abgenagten Augenlider begannen zu flattern. Das Zucken ihrer Hände wurde wilder und sie schlug um sich, bis sie wie im Tanz immer wieder um die eigene Achse schwang.

Riagh schlang das letzte Stück seines Brotes hinunter und erhob sich. Das Breitschwert hielt er fest mit der Rechten umklammert. Regen kam übers Land nieder und wusch die Luft rein von ihrem Gestank.

Er sah durch das Ungeziefer hindurch in ihre toten Augen.

»Weißt du, meine Verlobte wartet auf mich im Westen, in meinem alten Dorf. Garwad heißt es, vielleicht kennst du’s ja. Wahrscheinlich ist Anryn dir gar nicht unähnlich, womöglich trägt sie den Fluch bereits selbst in sich.« Er schwieg einen langen Moment. Das Gesicht der Toten war eingefallen, die Haut schälte sich von ihrem Fleisch und die Zähne klapperten schief aufeinander. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, wie sie einst lebend ausgesehen haben mochte.

»Und wenn Anryn Pech hatte«, er stockte, die Worte klebten zäh an seiner Zunge und wollten sich nicht recht mit seinem Atem zu einem Laut vermischen, »dann ist sie jetzt genauso wie du.« Der Regen kühlte seine heißen Wangen. »Aber es ist egal, was auch immer geschehen ist, ich werde sie finden. Und retten … auf die eine oder andere Art.«

Riagh wartete den Klang seiner letzten Worte nicht ab. Er schwang das Breitschwert in einem schnellen Bogen hoch über seinem Kopf. Sein Blick blieb starr auf die Augen der Toten gerichtet. Er hörte ihren restlichen Leib auf dem Boden aufkommen, als hätte er einen Sack nasser Wäsche fallen lassen. Menschen sollten nicht solche Geräusche von sich geben. Die Zeit dehnte sich quälend lang, während er versuchte, würdevolle Worte der Trauer für die Fremde zu finden, doch seine Gedanken waren leer wie ihr Blick. Endlich fiel auch ihr Kopf aus der Schlinge. Es war vorbei.

»Ich trinke mit dir in der letzten Nacht.« Dann nickte Riagh und setzte seinen Weg fort. Er musste Anryn retten.

»Du fliehst in die falsche Richtung, mein Freund!« Der Fremde klang freundlich, hob sogar die Hand zum Gruß. Neben ihm lief ein Mädchen, vielleicht sechs Winter alt. Mit grimmigem Blick nuckelte sie an ihrem Daumen. Auf dem schlammigen Pfad versanken ihre kleinen Stiefel bis zum Schaft.

Riagh erwiderte nichts, ging stattdessen einen Schritt seitwärts, damit sich der großgewachsene Rotschopf und sein Kind nicht an ihm vorbeizwängen mussten. Den Blick hielt er gesenkt, als wolle er keinen Regen im Gesicht, doch es half nichts. Der Mann rührte sich nicht. Riagh sah auf und die Augen des Fremden weiteten sich. Schnell wich er rückwärts ins hohe Gras aus, brachte Abstand zwischen Riagh und sich selbst.

Auch Riagh blieb nun stehen und hoffte, ohne Bewegung würde die Bedrohlichkeit von ihm abfallen. Denn er wusste, der Hüne hatte das Brandmal auf der linken Wange erkannt. Das abgetragene Kettenhemd zusammen mit dem roten Filzumhang und das Breitschwert taten ihr Übriges. Das Zeichen der imperialen Legion im Gesicht, die Rüstung eines Soldaten am Leib, die Beutewaffe eines Barbaren am Gürtel – Riagh war ein Heimkehrer von der Front. Doch nicht, weil es nun die Zeit war, sondern weil er es so entschieden hatte. Er war ein Deserteur und wer einen Schwur brach, brach alle, denn er kannte nur seinen eigenen Willen als Gesetz.

Die überladene Kiepe drängte die Knie des Rotschopfs in die Beuge und er formte die breiten Schultern zu einem Buckel. Die Lederriemen waren eng auf den triefenden Filz des Hemdes geschnallt. Dennoch begannen sie langsam über den stämmigen Leib zu rutschen, als der Mann grob den Arm des Mädchens packte, um sie hinter sich zu zerren. Sie sträubte sich, drehte sich um die eigene Achse und entwand sich so dem schützenden Arm ihres Vaters, ohne den Daumen aus ihrem Mund zu nehmen. Der Hüne griff erneut nach ihr, verlor das Gleichgewicht auf dem feuchten Untergrund und die schwere Kiepe riss ihn zu Boden. Erschrocken sprang das Mädchen zurück, rannte jedoch gleich darauf dem kupfernen Teekessel nach, der nun über das Gras rollte.

Riagh ging einen Schritt auf den Mann zu und reichte ihm die Hand zur Hilfe, aber der Kniende starrte nur an Riaghs Augen vorbei, wandte seinen Blick noch immer nicht von der Narbe ab. Verständlich, auch Riagh hatte die Brandmale einst bestaunt und gefürchtet zugleich. Die eingeriebene Asche der Zigali-Flamme ließ das sich aufbäumende Gewebe kupfern glänzen, als würde es noch immer brennen. Als trüge jeder Soldat ein inneres Feuer in sich, das aus seinen Wunden loderte.

Riagh zog seine Hand zurück, der Fremde hatte sie ohnehin nicht bemerkt. Oder er wollte sich von einem Deserteur nicht helfen lassen. Das Mädchen fing den alten Kessel und hockte sich mit ihrer Beute hinter die Kiepe. Noch immer lutschte sie trotzig an ihrem Daumen. Sie starrte zu Riagh und er starrte zurück.

Zwei Herzschläge lang verharrten ihre Blicke aufeinander, dann erhob sie sich und stapfte tapfer vor ihren Vater. Wie einen Schild hielt sie den Kessel vor ihren Leib. Ihr helles Haar klebte an der Stirn und leitete den Regen in die braunen Augen, doch sie blinzelte nicht.

Als blickte Anryn zu ihm auf.

Beschämt sah Riagh zu Boden, ignorierte auch das Messer, das der Hüne endlich aus der Gürtelscheide freibekommen hatte. Riagh floh, denn hier wurde er nicht gebraucht. Der Schlamm spritzte bis zu den Oberschenkeln herauf, als er mit festen Schritten seinen Weg fortsetzte. Er musste Anryn retten.

Der Herbst hatte Carthal dieses Jahr früh eingenommen, die Flüsse des Landes genährt und die Ebenen ertränkt. Noch ließ es sich neben der Vindara gut laufen: Der Weg versank zwar im Schlamm, lag aber hoch genug, um noch nicht von der Schwemme des Flusses erfasst worden zu sein. Doch Riagh wusste, dies war nur eine Frage von Wochen. Dann würde die sichere Straße nach Garlitha unpassierbar werden und die Flüchtlinge müssten ihr Glück in den Kernprovinzen suchen – und dort den Tod finden. Denn seit der Fluch über sie gekommen war, wurde Landflucht mit dem Strick bestraft, und zumindest im Inneren scherte man sich noch um die imperialen Gesetze.

»He, Soldat, du läufst in die falsche Richtung!« Ein alter Mann trottete gemächlich neben seinem zotteligen Esel, der stoisch einen überfüllten Karren samt stillender Frau zog und damit die volle Breite des Weges ausfüllte.

»Kann es für mich denn einen richtigen Weg geben?« Riagh wich vorsichtig ins Gras aus, ließ dabei den Streitkolben nicht aus dem Blick, der am Gürtel des Alten schaukelte.

»An der Front kannst du wenigstens nur einmal sterben.« Langsam führte der Flüchtling den Wagen an Riagh vorbei. Seine Stimme klang ruhig, doch seine Gesichtszüge zeigten tiefe Falten der Anspannung.

»Die Front ist überall …«, murmelte Riagh und ließ den Karren vollends passieren. Die Frau sah nicht vom Säugling auf und wirkte dabei unnatürlich starr. Riagh schaute dem Wagen noch eine Weile nach. Das an ihre Brust gepresste Bündel rührte sich nicht.

Carthal starb. Die frühen Herbstregen waren ein verzweifeltes Aufbäumen, ein kläglicher Versuch des Landes, die Seuche einfach auszuspülen. Doch das Gras blieb stumpf und die Menschen flohen. Der Fluch der Ash’Bahar wirkte schleichend, aber stetig.

Riagh hätte hier sein sollen, als die Horde den Fluch in seine Heimat getragen hatte. Doch er war Sivok zur Legion gefolgt und hatte fremde Barbaren im Osten erschlagen, während das Grauen einfiel und das Land schändete. Sie hätten beide hier sein sollen. Bei Anryn.

»Vertrau mir, Fremder, das ist die fal…« Die Frau erschrak beim Anblick seiner Narbe wie er beim Klang ihrer Worte. Er hatte nicht bemerkt, dass eine neue Wanderin seinen Weg kreuzte, hatte sich zu sehr in seinen Gedanken an Schuld und Scham verloren.

Sie wich schnell einige Schritte zurück – in die falsche Richtung, nah an den Abhang in ihrem Rücken, der die Straße von der Vindara trennte. Ihre Stiefel versanken im schlammigen Untergrund, der sich durch die panischen Tritte abzulösen drohte. Riagh machte einen Satz voran, packte die zappelnde Frau an den Armen und presste sie fest an das Kettengeflecht vor seiner Brust. Durch den feuchten Filzstoff ihres Kleides hindurch fühlte sie sich warm an.

Sie schrie, versuchte sich ihm mit geballten Fäusten zu entreißen und stieß ihr spitzes Knie gegen seinen Oberschenkel; ungezielte Angriffe, die kaum bedrohlich waren. Ruhig schleifte Riagh sie zur bewachsenen Seite des Weges und hielt sie nach wie vor an sich gepresst. Denn Panik vergaß zu oft den Schutz des Lebens, das sie doch schützen sollte, und Riagh fürchtete, in ihrer Flucht vor ihm würde die Frau nur wieder zur Vindara rennen. Also hielt er sie bei sich, bis ihre Kraft versagte und ihr heiseres Schreien verstummte. Erst dann löste er seinen Griff und drückte sie langsam, aber bestimmt von sich.

Die Frau war noch jung, vielleicht etwas mehr als zwanzig Winter auf dieser Welt und somit in seinem Alter. Ihr rechter Nasenflügel war leicht gespalten und plusterte sich auf ob ihrer raschen Atmung, die Haut der Unterlippe war rissig und stand in vielen bleichen Zipfeln hervor. Doch ansonsten war sie nicht unattraktiv, wenn auch gewöhnlich. Sie war nicht Anryn.

»Ist ja gut, ich tu dir nichts. Aber du wärst eben fast in den Fluss gestürzt. Wenn du also vor mir weglaufen willst, dann renn über die Wiese.«

Ihr Blick huschte unruhig zwischen seiner Narbe, dem Breitschwert und seinen Augen umher.

Riagh versuchte zu lächeln.

Sie wich einen Schritt zurück.

Ihre Kleidung war alt und zweckmäßig. Die lederne Tasche hielt sie fest an den Leib gepresst, mehr Gepäck führte sie nicht bei sich. Weit würde sie damit nicht kommen, doch selbst wenn … Die Garlither waren ein raues Volk, sie hätte dort keinen leichten Stand. Vielleicht sollte er sie begleiten, sie beschützen, zumindest bis zum ersten Dorf.

Sie hatte sich warm angefühlt, diesen kurzen Moment in seinen Armen. Der erste Mensch, den er berührt hatte, seit …

»Jedenfalls, danke für den Hinweis. Aber ich kenne meinen Weg.« Riagh schritt an ihr vorbei, ohne sich noch einmal zu ihr umzudrehen. Er musste Anryn retten.

Es war der perfekte Baum. Die Kastanie stand allein auf diesem Hügel und wirkte doch nicht einsam. Erhaben blickte sie auf das entfernte Fischerdorf hinab, als wäre sie eine mächtige Herrscherin, die über ihre Untertanen wachte. Die Blätter waren ihre herbstfarbenen Banner und ihre Früchte lagen wie kleine Grenzsteine rund um den Stamm und markierten ihr Königreich. Ihr prächtiger Stamm verriet ein hohes Alter und die Äste waren dick und ausladend, als würde sie gen Himmel blicken, um den Sturmfürsten selbst herauszufordern. Mochte Carthal auch kranken und verrotten, diese Kriegerin war bereit, dem Fluch zu trotzen!

Vor allem aber versprachen diese stabilen Äste ein gutes Nachtlager. Sicher, der Boden hätte einen bequemeren Schlafplatz geboten, doch eben auch das Risiko der wandernden Verfluchten – und bisher sprach ihnen kein Gerücht Kletterkünste zu. Und auch die wenigsten Räuber blickten auf ihrer Opfersuche nach oben. Trotzdem wünschte sich Riagh, er hätte sich einen anderen Baum gesucht, als ihn Gekeife und Schreie aus einem traumlosen Schlaf rissen.

Durch die lichte Blätterdecke erspähte er drei Männer und eine Frau, die fackelschwingend um ein Wesen tanzten, das sich mühsam auf dem Boden umherwand, wie es auch die Verfluchte getan hatte. Sie lachten auf, wann immer sie ihm durch ihre Tritte ein kurzes Gurgeln entlocken konnten, und die Knüppel an ihren Gürteln wippten bei jeder Bewegung mit. Sehr wahrscheinlich waren es die hiesigen Fischer, die sich dank des Mutes der Gruppe mit ihrem besonderen Fang vergnügten, um sich zumindest für einen Moment in ihrem Zorn überlegen zu fühlen.

Und besonders war dieser Verfluchte auf alle Fälle. Der zerschlissene Rock, den das Wesen trug, war aus blauem Leinenstoff, kräftig gefärbt, weder imperial und schon gar nicht cartharisch. Das Gesicht des Verfluchten war nicht zu erkennen, denn sie hatten ihm einen Sack über den Kopf gestülpt, vermutlich, damit er sie nicht biss. Aber da war noch etwas, das nicht so recht passen wollte und Riagh zwang, auf dieses fremde Wesen am Boden zu starren. Sein Blick wich nicht von den Händen des Fremden, die ein grober Strick auf dem Rücken zusammenhielt: Sie waren zu Fäusten geballt.

Dieser Mensch lebte.

Die Dörfler hatten sich einen Fremden gefangen, um ihn zu quälen und an ihrer uralten Wächterin zu erhängen. Ein Tritt gegen das Genick ließ den Fremden prusten und keuchen. Er krümmte sich zusammen, nur um vom nächsten Tritt gegen das Rückgrat wieder in die Gerade getrieben zu werden.

Riagh zwang seine Muskeln, sich zu entspannen. Was immer dort unten geschah, es ging ihn nichts an. Vermutlich hatte der Kerl sich an einem Mädchen im Dorf vergangen und war nicht schnell genug geflohen. Er war selbst schuld an seinem Schicksal.

Ein kurzes Aufbäumen, ein schneller Tritt, ein tiefes Röcheln. Auf dem Leinensack malten sich die ersten Linien in tiefem Rot, während der Leib erschlaffte.

Oder er hatte sich einfach in eine Frau aus der falschen Familie verliebt …

Der kleinste der Männer packte den Fuß des Fremden und riss den trägen Körper herum, sodass er auf dem Bauch zum Liegen kam. Vergnügt quiekte der Dickliche der Gruppe auf und drückte den Leinensack mit seinem Stiefel tief in den Schlamm, wodurch der Gefangene zu neuem Leben fand. Er zappelte, versuchte sich gegen die Schwere seines Angreifers zu stemmen, und kämpfte wild um jeden Atemzug.

»Was meint ihr, wie viel Feuer kann er wohl wirklich vertragen?«, sprach der Einäugige, der Größte der drei Männer. Er zerriss den Leinenrock und schwenkte die Fackel gefährlich nah über den blanken Hintern seines Opfers. Seine Haut war braun, wie es für die imperialen Südprovinzen üblich war. War dies sein Vergehen: War der Fremde zu fremd für diese Gegend? Als Riagh seine Heimat verlassen hatte, kümmerten sich nur die wenigsten Cartharer um Abstammungen. Cartharer war, wer in Regen und Sturm nicht schwankte, gleich in welchem Boden seine Wurzeln gewachsen waren. Aber damals waren die Toten auch noch tot geblieben. Und wenn die Imperialen stets über die Fremdländer in ihren Reihen flüsterten, hatte der Wind diese Worte vielleicht auch auf cartharische Lippen getragen? Manchmal reichten sechs Jahre, damit ein neues Zeitalter begann.

Der Dickliche ließ vom Sack ab, er wollte seine Beute nicht zu früh ersäufen. Sie waren bereit, den Fremden zu foltern, freuten sich gar darauf wie auf frischen Wildschweinbraten.

Riagh spannte sich wieder an. Es fiel ihm schwer, zu verharren, dem Treiben einfach zuzusehen. Aber die Dörfler würden ihn sofort erkennen und vermutlich verraten, weil sie auf ein Kopfgeld hofften. Das hier waren keine Flüchtlinge, sie mussten sich nicht vor den Soldaten fürchten. Die Legion würde einen Trupp schicken, Riagh jagen, fort von seinem Weg treiben und verhindern, dass er überhaupt in die Nähe von Garwad gelangte … Riagh saugte die Unterlippe zwischen seine Zähne, bis er Eisen schmeckte. Er konnte Anryn nicht für einen Fremden opfern.

»Na los, direkt in die Mitte!« Die junge Frau feuerte ihre Gefährten an, johlte, als der Einäugige erneut die Fackel nah über das Fleisch zog.

Der Leib am Boden zappelte, schrie heiser fremd klingende Wörter.

Riagh war, als rieche er jetzt schon verkohltes Fleisch. Und gebrannten Torf?

Der Einäugige grinste und kniete sich auf das strampelnde Bündel am Boden. Die Fackel in seiner Hand ließ tiefe Schatten gespenstergleich durch die Nacht tanzen. Und dann holte er mit kräftigem Schwung aus.

Anryn … Verzeih mir.

»He, ihr da!«

Die Gruppe verharrte augenblicklich in ihrem Treiben und sah zu Riagh auf, der sich vorsichtig aus seinem Versteck auf einen niedrigeren Ast gleiten ließ, um von diesem den Sprung auf den Boden zu wagen. Er versuchte nicht einmal, die Narbe zu verbergen.

»Das hier geht dich nichts an, Soldat!«, sagte der Kleine mit durchaus fester Stimme, während er zeitgleich einen Schritt zurücktrat.

»Oder willst du mitmachen?« Der Einäugige grinste noch immer und verpasste seinem Opfer einen Schlag mit der Fackel. Es zischte und der Fremde kreischte.

»Was hat der arme Kerl denn angestellt?« Riagh ignorierte den Wortführer, schritt langsam an den Gefangenen heran, während seine rechte Hand locker auf dem Knauf des Breitschwerts lag.

Die Beine des Fremden waren mit Blut und Schlamm verklebt, doch unter dieser Schlacke zeichneten sich feine Muskeln ab, die in Riaghs Gedanken einen sehnigen Körper offenbarten. Ein Soldat, der sich auf dem Weg zur Front verlaufen hatte?

Oder ein Deserteur, der in die falsche Richtung floh?

»Dieser arme Kerl hier ist ein Ash’Bahar!« Zornig deutete die Frau auf den Liegenden, der nun erneut in einer fremden Sprache fluchte. Er hatte wohl den Namen seines Volkes verstanden.

Riagh wurde schwindelig, die Schatten schienen ihn zu verspotten und die Hitze der Fackeln trieb ihm den Schweiß auf den Leib. Dies hier war kein Soldat aus den Südprovinzen. Er hatte Anryn für einen Nekromanten verraten.

»Na dann los, hängt ihn auf.« Die Worte kratzten sich durch Riaghs trockene Kehle.

»Keine Sorge, der hängt noch früh genug.« Mit einem Tritt ins Kreuz zwang der Kleine den Ash’Bahar erneut zum Keuchen. »Aber vorher wird er leiden, wie sie uns leiden lassen!«

Der Einäugige kniete sich nun wieder neben den Fremden. Seine kontrollierten Bewegungen verrieten, er würde ihn langsam foltern, damit er ihnen nicht zu schnell starb. Und er würde es genießen.

Riagh versuchte, ruhig zu atmen. Die anderen hatten doch recht, dieser verdammte Ash’Bahar sollte wimmern und betteln, keine Qual wäre genug. Diese Nekromanten hatten den Fluch über Carthal gebracht. Über Anryn.

Riagh ließ den Ash’Bahar nicht aus den Augen. Dumpfes Schluchzen drang durch den Leinenstoff.

Anryn war nie rachsüchtig gewesen.

»Ich sagte: ›Hängt ihn auf!‹ Jetzt.«

»Was ist, Soldat? Sind dir im Kampf gegen die Nekromanten die Eier abgefault? Bist du deshalb von der Front geflohen?« Der Dicke spuckte aus.

»Oder hast du deine Vorliebe für faules Fleisch gefunden und hoffst, der hier erschafft dir ein Liebchen, das dich auch als Feigling noch ranlässt?« Ihr schrilles Gelächter verschmolz mit den fliehenden Schatten zu einer bizarren Groteske.

Riagh zitterte. Er durfte nicht, er musste doch Anryn retten … oder war Anryn tot? Nur noch faulendes Fleisch? Tot wie Sivok, der mit ihm von der Front geflohen war … Plötzlich war die Nacht so furchtbar kalt.

Riagh starrte dem Kopf des Kleinen hinterher, der schwerfällig den Hügel hinabrollte. Blut perlte von der Klinge des Breitschwertes, das Riagh ausgestreckt vor sich hielt. Er konnte sich einfach nicht erinnern, wie er es gezogen hatte. Die Schatten verharrten. Die ersten Regentropfen fielen als weicher Schleier herab und wuschen seine Waffe von ihren Taten rein.

Hoffentlich waren die Dörfler klug genug, um zu fliehen.

Ein kühler Lufthauch küsste Riaghs rechte Wange. Er wandte sich um, riss das Breitschwert hoch. Dumpf traf der Knüppel seine Klinge, die Vibration erreichte kaum den Unterarm. Riagh musste es der Frau lassen, sie hatte Mut, so schnell diesen Kampf zu suchen. Die Klinge schnitt sich tief in ihren Oberkörper, der dünne Filz leistete keinen Widerstand. Blut schwappte aus der Wunde wie Wasser aus einem übervollen Regenfass und ergoss sich über den Stahl in ihrem Fleisch. Sie starrte Riagh an, mit diesem ungläubigen Blick. Wie sie es immer taten. Wer kämpfte, konnte sterben – sie schienen es stets zu vergessen.

Hoffentlich waren sie jetzt klug genug, um zu fliehen.

Riagh wich einen schnellen Schritt nach rechts und lehnte sich weit zurück. Die Fackel schwang nur knapp an seinem Gesicht vorbei und hinterließ den beißenden Gestank von verbrannten Haaren. Seine Waffe wollte nicht so recht aus dem zusammengefallenen Leib der Frau gleiten. Der Dicke holte erneut mit der Fackel aus, der Feuerschein ließ sein zorniges Gesicht rot glühen. Riagh sprang zur Seite, entkam auch dem zweiten Hieb und landete auf dem leblosen Frauenkörper. Mit einem kräftigen Ruck riss er sein Breitschwert endlich in die Freiheit. Nahende Hitze an seinen Wangen – schon wieder diese verdammte Fackel.

Es war, als bohrte sich seine Klinge von selbst in den Leib des Fischers. Als Riagh seinen Arm wieder spürte, ihn aus dem Sklaventum seiner Reflexe befreien konnte, lag der Mann bereits regungslos neben dem Gefangenen.

Ein dumpfes Klatschen, dann zwei schmatzende Laute. Riagh sah hoch, der Einäugige hatte seinen Knüppel fallen gelassen, war von den Leichnamen seiner Freunde zurückgeschreckt. Riagh sprang nach vorne, rutschte ein weiteres Stück durch den Schlamm. Er schwankte, drohte die Balance zu verlieren, und spannte sich an, um Herr seines Körpers zu bleiben. Kurz vor dem letzten Mann kam er zum Stehen. Er konnte den kalten Schweiß riechen, diese stechende Süße vermischt mit Fischöl und dem Gestank verbrannter Haare. Dem Einäugigen stockte der Atem.

Der Dörfler drehte sich um und floh, wie es Anführer immer taten, sobald sie schutzlos wurden. Er hetzte den Hügel hinab, stolperte über den Kopf seines Freundes, rutschte den Rest der Strecke im Schlamm. Er rannte immer weiter in die Dunkelheit, vermutlich heim ins Dorf, um dort seine schwerste Truhe vor die Tür zu schieben. Kluger Mann.

Riagh schüttelte sich, es war, als würden seine Muskeln von kalten Messern zerschnitten. Der Knauf seines Breitschwertes fühlte sich fremd an, so sonderbar dumpf an seinen Fingerspitzen. Morgen schon würden die Dörfler jemanden zum nächsten Kastell der Legion senden, auf dass ein Trupp kommen solle, die Bestie zu erlegen, die dieses Blutbad angerichtet hatte.

Riagh sah wieder zum Gefangenen. Er hatte Anryn für einen Ash’Bahar geopfert.

Oder hatten sie gelogen?

Riagh packte den gefesselten Leib und riss ihn auf die Knie. Der Fremde war von Schlamm und eigenem Blut überzogen und musste furchtbar frieren. Aber er zitterte nicht. Nicht mehr.

Riagh hockte sich hin, fixierte den Sack, wo er die Augen des anderen vermutete, und starrte. Er verharrte, versuchte auf dem schmutzigen Leinen die Zukunft zu lesen. Sie mussten schon vorher mit ihren Fackeln gedroht haben, denn das Gewebe war versengt, Blut und Schlamm bildeten verkrustete Muster. Riagh schluckte und hielt dieses Stechen im Nacken einfach nicht mehr aus. Diese kriechende Kälte, die sich um seinen Hals legte, die Kehle stetig fester band und sich über seine Schultern ergoss. Das Gefühl, nein, diese verdammte Gewissheit, dass der Nekromant ihn durch den Sack hindurch ebenfalls anstarrte.

Riagh zückte seinen Stiefeldolch, zerschnitt das grobe Leinen, um das Gesicht des Gefangenen freizulegen, und erschrak. Der Blick der fremdartigen Augen war an die seinen gekettet, als hätte der Stoff nie zwischen ihnen gelegen.

Die Gesichtszüge des Ash’Bahars waren nur schwer zu erkennen, viel zu dick lag die Kruste aus altem Blut um seine Haut und wurde von frischen Spuren getränkt. Das schwarze Haar klebte strähnig an seinem Kopf und war nach hinten gebunden, doch die Augen verrieten seine Herkunft: Die azurblaue Iris war von roten Trieben durchzogen. Man erkennt sie an den Krallenspuren in den Augen und den roten Haarspitzen, flüsterte man an der Front. Riagh schüttelte den Kopf, ohne den Blick abzuwenden. Wie ein blutender Sommerhimmel. Seine eigene Spiegelung darinnen erschien ihm winzig und schwach, wie hinter dicken Regenwolken verborgen.

Hatte dieser Kerl Anryn auf dem Gewissen? Der Blick des Nekromanten schien Riagh die Gedanken zu verkleben.

Langsam erhob er sich, umfasste den Griff seines Schwertes wieder fester. Er durfte sich nicht von den Verwundungen täuschen lassen: Der Ash’Bahar war ein hungriger Wolf an einer Eisenkette. Er ergab sich nicht, er lauerte.

Ein Nekromant sei mit seiner Magie zehn Soldaten wert, hatte es geheißen. Riagh packte sein Breitschwert mit beiden Händen, bevor er die Klinge neben dem Kopf des Knienden in die Luft hob. Ein Deserteur war also zehn Soldaten wert.

Der Ash’Bahar zeigte keine Regung, schaute nicht zur Klinge. Die Augen bettelten nicht. Noch nicht einmal, als Riagh das Schwert auf seinen Hals niedersausen ließ. Er wollte immer noch nicht zittern.

Riagh keuchte, der rasende Herzschlag trieb ihm die Hitze in den Körper. Er blickte auf seine Arme, folgte dem schmutzigen Stoff zu den fiebrigen Händen, die sich vergeblich am Griff des Schwertes festklammerten und die breite Klinge in Vibration versetzten. Noch immer perlten feine Blutstropfen herab und verloren sich im Schlamm, der das blaue Leinenhemd des Ash’Bahar verzierte. Riagh sah den winzigen Tropfen nach, wie sie am regungslosen Leib herabflossen, versuchte, sich jede der dunklen Kuhlen einzuprägen, wo sie in der Schlacke versickerten. Um keinen Preis wollte er je wieder aufschauen.

Anryn … Er hatte es wirklich vermasselt.

Riagh schämte sich, als er endlich den Mut fand, erneut in das Gesicht des Ash’Bahars zu blicken. Um ein Haar hätte er einen Wehrlosen abgeschlachtet … schon wieder … Wer von ihnen war die wahre Bestie, die an eine Eisenkette gehörte?

Die fremden Augen schienen ungerührt, starrten Riagh noch immer an, warteten. Die Klinge lag dicht am fremden Hals und hatte die Schicht verkrusteten Blutes fein geteilt.

Der Nekromant schenkte Riagh ein dünnes Lächeln, als grüßte er einen flüchtigen Bekannten. Ohne jede Andeutung eines Triumphes.

Aus Fieber wurde Frost. Riagh war verzweifelt, er wollte Zorn in sich beschwören, die Kontrolle verlieren. Der Nekromant sollte ihm einen Grund schenken, um die Klinge erneut zu erheben. Er hatte dieses Land verflucht! Er ließ die Toten auferstehen, dass sie sich seinem Willen beugten! Er war hier, um alles Leben aus Carthal zu pressen! Riagh suchte nach Hass in diesen blutdurchtriebenen Augen.

Er fand Neugierde.

Das Breitschwert glitt aus Riaghs Händen, als er sich in den Matsch sinken ließ. Der Ash’Bahar lächelte nun aufmunternd. Riagh kämpfte mit den Tränen. Er hatte drei Cartharer für einen Ash’Bahar getötet. Kaum von der Front geflohen, hatte er jeden Sinn für Freund und Feind verloren. Er war so ein verdammter Feigling.

»Du bist doch völlig verrückt …« Riagh sprach mit dem Nekromanten und wusste doch nicht, wen er meinte. »Ich werde dich umbringen müssen, weißt du? Freilassen geht nicht, dann wirst du dich an diesem Dorf rächen – und danach mit einer Armee aus neugeschaffenen Verfluchten zum nächsten marschieren.« Er hoffte auf ein Nicken, einen traurigen Blick, heftiges Kopfschütteln oder sonst eine Regung. Aber der Nekromant lächelte bloß. »Na toll, du verstehst mich nicht mal.«

Riagh stand auf, ging zwei Schritte nach rechts, verharrte im Schlamm, drei Schritte nach links. Ein kurzer Blick zum Ash’Bahar, keine Regung, Kopfschütteln, jetzt vier nach rechts. Welche Wahl hatte er denn? Zwei Schritte nach links, er wandte sich um, verharrte, fast wäre er über den Leichnam der Frau gestolpert. Hätten sie den Kerl doch einfach aufgehängt.

Riagh schrie und rannte zur Kastanie, deren ausladende Äste mit dem kühlen Morgenwind spielten. Er griff an, wieder und wieder rammte er seine Fäuste in das feste Holz und versuchte den aufkeimenden Schmerz hinfort zu schlagen. Das knarzende Lachen dröhnte in seinem Schädel. Warum konnte er ihn nicht einfach töten … nicht wenigstens einmal das Richtige tun?

Als Riagh sich endlich aus dem Kampf löste und sein Duell gegen die Kriegerin aus Holz und Kastanien verloren gab, hatte die Dämmerung dem Himmel bereits ein sanftes Rot geschenkt. Die Finger trieften vor Blut und schmerzten bei jeder Bewegung, knackten unschön wie trockene Äste. Aber das Schwert würden sie noch halten können. Riagh seufzte, lehnte seine Stirn an das kühle Holz. Und wenn der Nekromant auch ein Deserteur war, von der eigenen Front weit fort in die falsche Richtung geflohen? Es half nichts, Riagh musste es tun. Einem Ash’Bahar war nicht zu trauen.

»Es tut mir leid, mein Freu… Fremder.« Riagh griff nach dem Breitschwert an seinem Gürtel. Seine Muskeln krampften, der Puls pochte an Stirn und Handgelenken, als seine schmerzenden Finger immer wieder die leere Schwertscheide abtasteten. Er war so ein verdammter Idiot!

Panisch drehte Riagh sich um, suchte nach den Spuren des Nekromanten, bereit zum Sprint. So weit konnte er noch nicht gekommen sein.

Der Ash’Bahar lag rücklings im Schlamm, mühsam stemmte sich der Brustkorb für jeden Atemzug empor. Die Augen waren geschlossen, Kälte und Blutverlust hatten den Lippen die Farbe gestohlen. Die Auswirkungen der Nacht hatten seinen Leib übermannt. Die Hände waren noch immer gebunden, das Breitschwert lag greifbar nahe im Schlamm. Die fehlenden Spuren waren eindeutig: Er hatte nicht einmal versucht, sich zu befreien.

Riagh schritt zu seinem Schwert und reinigte die Klinge behutsam am Filz des Dicken. Fassungslos starrte er zum bewusstlosen Ash’Bahar hinüber. Warum war er nicht einfach weggerannt?

Nun konnte er ihm einen schnellen und furchtlosen Tod schenken.

Ein lautes Schnarchen ließ Riagh aufschrecken. Es klang so unwirklich friedlich zwischen all den Leichen.

Einen Moment noch zögerte Riagh, dann schüttelte er resignierend den Kopf und wanderte den Hügel hinab zum Ufer der Vindara. Um diese Wunden zu versorgen, würde er viel Wasser brauchen.

Neugierig? Von Rache und Regen I – Regentänzer erscheint am 1. Oktober 2019 im Traumtänzer-Verlag. Hier vorbestellen!

Inhaltshinweise zum Roman (Warum? Darum!)

Regentänzer
Alkohol, Depression, Gewalt gegen Menschen & Kinder, Krieg, Rassismus & Fremdenfeindlichkeit, Selbstverletzendes Verhalten, Sexismus, Sklaverei, Tod

Author: Annette Juretzki

Autorin von Fantasy, Scifi & Unfug. Lektorin, Korrektorin & sonstige Besserwisserin. An sich ein netter Mensch, wenn man sie nicht näher kennt.

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